Vom
Fehlen des Außen
Michael Thamm
Müll
hat heute eine Aura des Feierlichen,
einen Aspekt der Unberührbarkeit
Als im Februar 2007 die Opernbearbeitung des Lynchfilms Lost Highway in Amerika aufgeführt wurde, war der Jubel unter den Kritikern groß: Neuwirth
has done more than adapt a movie: She has created an ode to an artwork...
A jittery musician; a sadistic gangster; his platinum-wigged moll; Verantwortlich
für die musikalische Adaption war die österreichische Komponistin Olga
Neuwirth, das Libretto schrieb sie zusammen mit Elfriede Jelinek. I Orientierung Damit
leisteten sie einen künstlerischen Beitrag zur Interpretation eines
Films, dem andere gern mit den Theorien ihres großen Landsmannes und
Diskursbegründers Sigmund Freud und dessen Erben Jacques Lacan zu Leibe
rücken. Am schönsten in den analytischen Texten von Slavoj Zizek1]
und Robert
Blanchet[2]
nachzulesen. Auch ich werde mich hier zu einem wichtigen
Teil auf die Erkenntnisse psychoanalytischer Dekonstruktionstechnik
stützen. Aber während Blanchet/Zizek vor allem die Dynamik des Begehrens
und des Phantasmas untersuchen, ruht mein Augenmerk eher auf der Analyse
der Struktur des technisch implementierten Unbewussten. Elfriede
Jelinek hingegen beugt sich dem Diktum, man könne Lost Highway(1997)
einfach nicht interpretieren. Sie schreibt: "Ich
kann zum Rätsel 'Highway' nur wenig sagen, weil es ja ein Rätsel ist
und auch sein soll. Und bleiben muß."
[3]
Einige
Zeilen weiter fügt sie hinzu:
"Ich habe
nicht versucht, diese Nicht-Geschichte zu interpretieren, denn es liegt
im Wesen dieser Reduktion, daß Interpretation eben nicht möglich ist."
[4]
Und schafft in ihrer Betrachtung des Films selbst so etwas wie eine interpretative
Beschreibung ihres Umgangs mit dem "Rätsel". Weiter gibt
es eine geheime Verbundenheit in den Texten von Jelinek mit den Filmen
von Lynch. Dies vor allem durch eine Technik, von der gelegentlich behauptet
wird, sie sei ein auszeichnendes Element postmoderner Kunst: Die Neukombination,
Arrangements gebrauchfertiger Muster, nah an der Leere, und das in absoluter
Überfülle. Die gleiche Technik ist zum Beispiel auch in der unbewussten
Witzproduktion am Werk. Lynch bedient sich einer Variante: Er saugt
die Klischees des B-Films, die Topoi des Film Noir und des Horrorfilms,
speziell der 40er bis 70er Jahre in seine Filme. Jelinek hingegen arbeitet
die Second-Hand-Welt des Fernsehens und anderer Massenmedien in ihre
Texte ein.
Schon
dem ersten Leser der Freudschen Traumdeutung, Fließ,
war aufgefallen, dass die darin erzählten Träume den Charakter mancher,
nicht eben guter Witze aufwiesen. Freud erklärt daraufhin, die Träume
hätten deshalb diese Gestalt, weil dieselben
Mechanismen sowohl bei der Traum- wie bei der Witzproduktion wirkten.[5]
Ebenso, kann man inzwischen hinzufügen, in so manchem
Film. Lost Highway ist solch ein Film. - Man denke nur
an die Szene, in der Mr. Eddy zu seiner "Verkehrsbelehrung"
mit vorgehaltener Waffe anhebt.
Ein
Teil des Rätsels von Lost Highway beruht auf der Methode,
mit der Lynch aufeinander bezogene Topoi aus der Filmgeschichte verdichtet
und verschoben potenziert. Aufgrund seiner "Verdichtung",
Schließung, erzeugt er im "Inneren" eine "komplexe Leere", die man sowohl als "sublimen Schmarrn"
[6]
oder, durch den Recyclingcharakter gestützt, als "Müll"
bezeichnen kann.
Hier
starrt ein gefesselter Blick auf bereits Gesehenes und kann sich nicht
abwenden. Lynch ist von Auflösung, Unterwelt und Ekel fasziniert. 2007
dreht er für die städtische Müllentsorgung in New York ein Werbevideo:
In schwarz-weißen Bildern, akustisch untermalt von dräuender Musik zeigt
es, wie unverantwortliche Menschen achtlos ihren Müll auf die Straße
werfen und damit im Untergrund die Rattenpopulation zu Explosion bringen.
Kein Zweifel, seine Faszination gilt den Nagetieren, nicht den Menschen.
Die
Story: Vorspann:
Auf einem Highway, in der Mitte durch Fahrbahnmarkierungen aufgeteilt,
rast ein Auto durch die Nacht (Subjektive Kameraeinstellung aus dem
Autofenster heraus). - Die gleiche Einstellung auf den titelgebenden
Highway findet sich am Ende des Films wieder.
Teil
1 Der
Saxophonist Fred (Bill Pullman) lebt mit seiner Frau Renee (Patricia
Arquette) in einer Welt, die in etwa der in den Bildern Edward Hoppers
entspricht. Das Verhältnis ist offensichtlich gestört. Fred blickt gelangweilt
und düster an der Kamera vorbei ins Off. Jemand drückt auf den Knopf
der Gegensprechanlage, Fred lauscht einer fremden Stimme: "Dick
Laurent is dead."
[7]
Eines Tages entdeckt er vor seiner Wohnungstür Videokassetten,
die das Paar im Schlaf zeigen: Jemand muss also nachts in ihr Haus eingedrungen
sein. Auf einer Party verwickelt ihn ein merkwürdiger kleingewachsener,
bleicher Mann mit aufgerissenen Augen in ein seltsames Gespräch, das
Fred Raum- und Zeitkonstanten verlieren lässt. Im Verlauf des ersten
Teils bringt Fred Renee um und wird zum Tode verurteilt.
Fred
wälzt sich im Gefängnishof auf dem Boden, er "hält’ s im Kopf
nicht aus". Und richtig, schon zeigt sich als Beleg dafür eine blaue
Verformung an seinem Kopf. In seiner Zelle (oder auf dem elektrischen
Stuhl)wackelt Fred in Turbogeschwindigkeit mit dem Kopf. Teil
2 Am
nächsten Tag finden die Wärter anstelle von Fred den ahnungslosen Kfz-Mechaniker
Pete(Baltazar Getty)in Freds Zelle vor, die Schädelverformung wurde
an Pete weitergereicht. In Freiheit verliebt sich Pete in die Gangsterbraut
Alice (erneut Arquette), die wie ein blonder Zwilling von Renee erscheint.
Alice, im "Besitz" des Gangsterbosses "Mr. Eddy",
den die Polizei als Dick Laurent kennt, erwidert scheinbar seine Zuneigung.
Sie will sich mit Pete aus dem Staub machen. Zuvor muss jedoch
noch Andy, der Gastgeber der ominösen Party aus Teil 1, ein alter Bekannter
von Renee, um Geld und Schmuck erleichtert werden. Im Haus von Andy
kommt es zum Kampf. Auch Andy "hat’s im Kopf", nur
diesmal ist es eine gläserne Tischplatte, in deren Kante er hineinspringt.
Während des Geschehens läuft auf einer großen Leinwand die Endlosschleife
eines Pornofilms mit Alice, das Gesicht in die Kamera gereckt, die von
älteren Mann a tergo genommen wird.
Vor
dem Haus des Hehlers (wieder der bleiche Gnom)schicken sich Pete und
Alice an, miteinander zu schlafen. Doch plötzlich bricht Alice ab und
spricht: "You’ll never have me." Alice verwindet auf
dem Weg in die Hütte des Hehlers, Pete ist wie betäubt.
Teil
3 Als
er zu sich kommt, hat er sich in Fred verwandelt. Fred fährt zum "Lost
Highway-Hotel", beobachtet von einem Nebenzimmer aus Renee, wie
sie mit Dick Laurent schläft. Renee verlässt das Hotel, Fred geht in
das Zimmer, schlägt Laurent zusammen und sperrt ihn in den Kofferraum
seines, Dick Laurents, Mercedes.
Fred
fährt zum Haus in der Wüste. Als er den Kofferraum öffnet, springt ihm
Dick Laurent entgegen. Der plötzlich anwesende bleiche Gnom reicht ihm
ein Messer, Fred schneidet Laurent die Kehle durch. Der mysteriöse Mann
gibt dem schwer Blutenden einen Taschenfernseher. Auf dem Bildschirm
ist Laurent mit Renée zu sehen, wie er sie küsst, während sie und seine
Freunde sich einen Porno ansehen, in dem unter anderem Marilyn Manson
einen Kurzauftritt hat(Snuff- Video mit Marily Manson als Opfer). Nachdem
Laurent den Fernseher dem Mystery Man zurückgeben musste,
spricht er zu ihm: "You and me, Mister. We can really out-ugly
them sumbitches, Can’t we?
Der
Gnom erschießt Dick Laurent und flüstert Fred etwas ins Ohr, das der
Zuschauer nicht hören kann. Fred nickt. Inzwischen
hat die Polizei Andys Leiche gefunden, überall finden sich Petes Fingerabdrücke.
Fred fährt zu seinem Haus, betätigt die
Gegensprechanlage und spricht den Satz vom Anfang des Films: "Dick
Laurent is dead." Die Polizei nähert sich Freds Haus, Fred springt
in den Mercedes und braust davon. Auf der Flucht wackelt Fred in gewohnter
Weise mit dem Kopf.
- Abspann
Lost
Highway
ist ein Film voll von merkwürdigen Figuren. Auf allen Ebenen, allen
Enden poppen Doppel- und Wiedergänger auf, bereit, wie Springteufel
Dick Laurent aus dem Kofferraum hervorzuschnellen, um die strangulierenden
Hände nicht nur um Freds Hals, sondern auch um den Hals jedes Interpreten
zu legen. Mit Möbiusbändern ans Analytikerbett gefesselt, müssen sie
im Halbdunkel des Kinos dem Zergehen ihres eigenen Nachbildes beiwohnen.
- Wenn sie denn wollen. Nachdem
er den größten Teil der Formelsammlung von Lacan/Zizek in Anschlag gebracht
hat, bemerkt Robert Blanchet: "Fast
scheint es uns ja sogar, als habe Lynch in den letzten Jahren nicht
nur einfach auf dem Stuhl gesessen, um auf Ideen zu warten, sondern
hin und wieder auch ein bißchen Zizek gelesen."
[8]
In
der Tat muss man sich wundern, wie passgenau die psychoanalytische Theorie
sich Lost Highway anschmiegt. Zu gut, als dass ihre
Entdeckungen nicht zutreffen können? - Hier kann man in Abwandlung einer
Bemerkung von Slavoj Zizek in seinem Aufsatz über Lost Highway
einen Gedanken variieren. Zizek konstatiert darin, dass die neue Femme
Fatale mit der Wahrheit über ihr Begehren insofern lügt, als sie
mit dem Unglauben des Geliebten spielt, sie habe insgeheim ein Herz
aus Gold: Weil nicht wahr sein kann, was derart dreist offenbart wird.
[9]
- Oder dasselbe in einer anderen bekannten Variante,
zitiert bei Lacan nach Poes " Der entwendete Brief": Darin
kann das gesuchte Objekt, der entwendete Brief, von der Polizei nicht
gefunden werden, weil es direkt für alle sichtbar aufgehängt ist
[10]
.- Manchmal versteckt sich das Unbewusste eben durch
demonstrative Sichtbarkeit. Für Lost Highway gilt dieses
Verhältnis beinahe durchgängig. Demnach kann also die "Urszene"
auf der Leinwand in Andys Haus oder die wunderschönen Verästelungen
eines klassischen ödipalen Dreiecks durchaus als solches diagnostiziert
werden, gerade weil Lynch und sein Co-Autor Barry Gifford sie so klar
vor die Augen des Zuschauers/ Analytikers platziert haben. – Ich
schlage vor, sich hier der alten Erkenntnisse Freuds über den Traum
zu bedienen. Dabei ist Lost Highway kein illustrierter
Traum, sondern man bekommt Traumlogik geliefert, sieht die Technik des
Traums bei der Arbeit. Den Tagesresten bei Freud entsprechen Filmreste,
aufgefunden in den Archiven der Ufa und Hollywoods, angelagert und verändert
im Gedächtnis der Drehbuchautoren und mit Lynchs persönlichen Phantasmen
garniert.
Weil
aber der Film den "neurologischen Datenfluss selber" implementiert
[11]
wie Hugo Münsterberg in seinem grandiosen Werk "The
Film.A Psychological Study.The Silent Photoplay in 1916" ausführt
und mit seiner Tricktechnik spielerisch auch jede Traumtechnik ausführt,
stimmt seine Feststellung:"… every dream becomes real."
[12]
Lynch führt die realistische Tradition Lumieres mit
der phantastischen Melies’ zusammen in einer ihm eigentümlichen
Methode der "Verschmelzung" beider dem Film innewohnender
Tendenzen. Vgl. Zizeks Fernsehreihe "The Pervert’s Guide
To Cinema". Dort
spricht er über "Lost Highway": "What this both films (Mulholland
Drive und Lost Highway) make so interesting..., is,how they
posite reality and fantasy side by side."
Fehlt
nur noch eine Erklärung für all die Dubletten, die multiplexen Anspielungen
und auffälligen Übereinstimmungen zwischen psychoanalytischen Topoi
und Inhalten in Lost Highway. Zum einen ist da der Fakt,
dass die Psychoanalyse nicht nur, wie Todorov bemerkt, die fantastische
Literatur überflüssig gemacht hat
[13]
und damit auch das klassische Doppelgängermotiv,
sondern (Zitat Kittler) …
weil
Geister bekanntlich nicht sterben, ist neben der Literatur eine neue
Phantastik entstanden. Das Kino und seine Drehbuchlieferanten besetzen
die von der Romantik geräumten Stellungen….Um Doppelgänger zu
erblicken, müssen Leute weder gebildet noch angetrunken mehr sein….
Kinodoppelgänger führen vor, was mit Leuten geschieht, die in die Schußlinie
technischer Medien geraten. Ihr Ebenbild wandert motorisiert in Körperdatenbänke.
[14]
Kein
Wunder, dass einem die Hauptfigur Fred/Pete vorkommt, als sei sie das
Abbild eines im "wiederkehrenden Spiegel" (Robbe- Grillet)
abgefilmten Ektoplasmas mit der psychischen Ausdrucksfähigkeit einer
animierten Schaufensterpuppe. Selbst wenn sie zum ersten Mal im Film
erscheinen, sind die Figuren bereits Doppelgänger oder Abschattungen
neutechnischer Archetypen. Schon, weil McLuhans Feststellung zutrifft,
dass der Inhalt eines Mediums nur das historisch vorangegangene sein
kann.
[15]
Zwar kann es keinen Metafilm im eigentlichen Sinne
geben, aber Lost Highway verwurstet so ziemlich alles,
was die Tradition des Phantastischen Films und des Film Noir zu bieten
hat. Diese Filme sind wie Container angesammelten Wissens und Subwissens.
Lynch extrahiert die ihm passenden Teile, verschmilzt sie, bläst sie
auf, vervielfacht sie, verwischt so seine Spuren und macht Lost
Highway durch leicht verschobene Drehungen mit einer Möbiusband
-ähnlichen Schleife dicht gegen die üblichen Interpretationen.
Lost
Highway
ist kein Film über irgendetwas, sondern eine kinematographische Synopse
des Film Noir und des Horrorfilms. Oder in der Aufnahme von Elfriede
Jelinek:
Der
Film suggeriert reale Erlebnisse von Personen, die vom Zuschauer für
real genommen werden sollen. Dieser besondre Film aber zerschlägt diese
Realitätserwartungen immer wieder, weil nicht real sein kann, was nicht
real ist, aber auch nicht real sein soll.
[16]
Der
in Fred’ verwandelte Pete fragt den Mystery Man: "Where
is Alice?" Der
Mystery Man antwortet: "Alice who? –Her name is Renee. If
she told you her name is Alice she’s lying."
Der
Mystery Man hat vollkommen Recht, denn als Fred kann die Hauptfigur
Alice gar nicht kennen, sondern nur Renee. Darauf wird der Mystery Man
noch direkter und fragt Fred:" And your name? What the fuck is
your name?" –Da Fred die Frage nach seiner Identität nicht
beantworten kann, flüchtet er in die Tat.
Als
Mephisto, den der Mystery Man zweifellos darstellt, bewegt sich diese
Figur frei in Zeit und Raum. Ihn kann es nur einmal geben.
II
The
photoplay tells us the human story by overcoming the forms of the outer
world, namely space, time, and causality, and by adjusting the events
to the forms of the inner world, namely, attention, memory, imagination
and emotion.
[19]
Lost
Highway
erzählt uns die menschliche Geschichte in der Weise, wie sie der Film
Noir erzählt. Zwar kann man mit einigem Recht wie Blanchet sagen,
dass der erste Teil des Films mehr den Charakter eines Sozialdramas
hat
[20]
, allein die Edward Hopper – Atmosphäre, die
unzähligen Retro- Details, nicht zuletzt das Auftauchen der Mephistofigur
oder das brutal-hektisch-zerhackte Saxophonsolo von Fred belegen jedoch
eine „verschobene“ Welt. Und "dunkel" genug
ist das Ambiente von Fred und Renee ohnedies. Während Freds Außenwelt
Spiegel seiner eigenen zerrissenen inneren Welt ist, agiert Pete in
einem externalisierten Kosmos, dessen Gesetze ihm fremd bleiben. Fred
in Teil drei dagegen ist am Ende mit sich im Reinen: Dick Laurent ist
tot, die Gesetze der Realität sind wiederhergestellt, seine Repräsentanten
ihm auf den Fersen. Oder wohl doch nicht, wie die dritte Metamorphose
anzeigt.
Der
Film Noir ist eine Hollywoodgeburt aus dem Geist des deutschen
expressionistischen Films mitsamt seinen Doppelgängermotiven. Emigranten
wie Fritz Lang,
Robert Siodmak,
Edgar Ulmer, Otto Preminger prägten seinen Stil, Hitchcock, der in den
20ger Jahren in Deutschland an einigen Filme mitarbeitete, ergänzt die
Gruppe. Zusammen mit der Stimmung der 40ger Jahre, durch literarische
Vorlagen von Chandler und Hammet amerikanisiert, repräsentieren die
so entstandenen Filme eine Art Gegenwelt zum American Way of Life. Darüber
hinaus transportieren sie neu eingespeiste Reste der phantastischen
Literatur. Zwei Filme sind paradigmatisch für die neumediale Einmündung
in Lost Highway. Da ist einmal der Film "The Killers"(1946)
von Robert Siodmak nach einer Erzählung von Ernest Hemingway und dann
"Vertigo"(1958) von Alfred Hitchcock. Interessanter Weise
übernahm im Remake von "The Killers", Don Siegels "Tod
eines Killers"(1964) Ronald Reagen die Vater-Gangsterboss-Figur
als seine letzte Filmrolle, bevor er erst die Gouverneur-, dann die
Präsidentenrolle übernahm. Vielleicht ein Hinweis für Zizek, der so
gern Vaterfiguren in Lost Highway entdeckt.
[21]
Die
Konstruktion zweier gleich aussehender Frauen, die möglicherweise identisch
sind, stammt aus Vertigo. Einige Nichtübereinstimmungen
mit dem Vorbild können hier kein Gegenargument sein, da Lynch so gut
wie nichts direkt übernimmt, sondern im Gegenteil peinlich genau darauf
achtet, dass wenigstens ein wichtiges Detail nicht genau passt. Dies
nur an die Lynch-Enthusiasten, die immer wieder betonen, wie kreativ
Lynchs Umgang mit seinen Vorbildern ist. Denn sofort müsste ein Analytiker
dem Einwand folgend neu ansetzen, wenn er einen Diebstahl bemerkt haben
will. Muss er nicht, denn Lynch verwischt seine Spuren, manchmal auch
durch Ausstellen des Diebesguts. Ein
sehr schönes Beispiel für die Übernahme von Szenen aus der Hitchcockwelt
ist die Anfangs- und Schlussszene von Lost Highway. In Hitchcocks
North by Northwest(1959) rast Cary Grant, als Roger Thornhill
von Gegenspielern zwangsweise betrunken gemacht und an das Steuer eines
Wagens mit zerschnittenen Bremsleitungen gesetzt, nachts auf der Flucht
vor der Polizei einen Highway entlang: Durchbrochene Fahrbahnmarkierungen
rasen auf die Windschutzscheibe- Filmleinwand
zu. Auch Cary Grant hat’s im Kopf. Immer wieder wackelt er, durch
Alkohol in seiner Wahrnehmung irritiert, ungläubig damit hin und her.
– Aber wo bei Hitchcock Humor und Witz aufgeboten werden, setzt
bei Lynch die Metamorphose ein.
Der
Film Noir ist wie der B- Film und der Porno die Rückseite
der glänzenden Hollywoodwelt. Hier, im zunächst billigen Genre, konnten
manche begabten Filmautoren mehr wagen, expliziter sein als im Mainstream-
Kino. Und so erzählt der Film Noir in symbolischer Form
die "human story" aus der Perspektive ihrer Nachtseite.
Lynch muss aus einem Zwang zur "Rücksicht auf Darstellbarkeit"
traumanalog oben genannte Filmgenres bedienen. Sie finden sich allesamt
in Lost Highway wieder. Einfach deshalb, weil auch die Vorbilder,
z.B. The Big Sleep(1946) schon Pornographie –Konnexe
enthalten.
Lynch
zitiert nicht etwa kinematographische Vorbilder in der Art, wie es man
dies von Godard kennt. Godard macht seine Zitate sichtbar, sie kommentieren
gelegentlich den sie umgebenen Film, sind oft ironisch gebrochen. Nicht
so bei Lynch, der seine Samples neu verschweißt, ihnen einen anderen
Dreh gibt, sie leicht verschiebt, neu einwebt. Deshalb ist auch die
Bezeichnung Collage nicht angebracht. Hier müsste man Nahtstellen bemerken,
zudem werden durch konsequent durchgehaltenes Sound- und Bilddesign
alle divergierenden Elemente egalisiert. Ein
Betrachter des Films Lost Highway hat so immer den Eindruck,
einen Film gesehen zu haben, den er bereits kennt, er weiß nur nicht
genau, woher. Manchmal weiß er auch nicht einmal, was
er gesehen hat. Das
Neue daran ist das Alte darin. Es gibt in der Filmgeschichte ein partielles
Vergessen, das mit zunehmender Zeit immer schneller voranschreitet.
So ist das Wissen über die Codierungen des Sexuellen oder des Unbewussten
aus den vierziger Jahren soweit zugeschüttet, das sie beim Wiederauftauchen
in einem Lynch-Film als innovativer Stil gefeiert werden können.
Lacan
spricht: Die
Welt ist allsehend, aber sie ist nicht exhibitionistisch - sie provoziert
nicht unsern Blick. Wenn sie anfängt den Blick zu provozieren, setzt
auch schon das Gefühl des Befremdlichen ein. Was besagt dies anderes,
als daß im sogenannten Wachzustand der Blick elidiert ist.
[23]
Anders
bei Lynch, denn dort gibt es keinen Wachzustand, weshalb sich psychische
Funktionen auch objektivieren, personalisieren. Im psychischen Innenraum
wird groß A als Tod, Blick, Kamera, meist in Form des Mystery Mans repräsentiert.
Zitat Lacan:"Umgekehrt
ist das, was ich erblicke, nie das, was ich sehen will"
[24]
- Die glotzenden Totenaugen des Mystery Mans treffen
Fred, den sie im Bett aus Renees Gesicht heraus, filmtechnisch durch
ein Ineinanderblenden gelöst, anstarren. An dieser Stelle kommt niemand
an Lacans Beispiel für die Auftrennung von Sehen und Blick in Hohlbeins
Gemälde "Die zwei Gesandten" vorbei.
Gehen
Sie langsam aus dem Raum, in dem das Bild Sie gewiß lange festhielt.
Dann, wenn Sie sich wenden - der Autor des genannten Buchs über die
Anamorphosen hat es beschrieben - erblicken Sie -einen Totenschädel.
[25]
Zwar
bezieht sich Zizek hier auf die Szene der Verwandlung von Pete in Fred’,
aber für die oben beschriebene Situation trifft die Analyse ebenso zu.
Nur mit dem Unterschied, dass in der "Wirklichkeit" der
Schrecken noch größer ist als im Traum.
Was
nicht weiter wundert, da Lost Highway in traumlogischer Manier konstruiert
ist. Hier gibt es kein Entkommen in die Wirklichkeit, denn es gibt kein
Außen. Schleifen
Exkurs Als
kleine Differenzialanalyse möchte ich folgende klassische Interpretation
wagen: Bei den Worten, die der Mystery Man Fred’ für den Zuschauer
unverständlich ins Ohr flüstert, handelt es sich um den Auftrag, Fred
die Nachricht vom Tod Dick Laurents zu überbringen. Fred’ fährt
zum Haus von Fred. Fred sitzt derweil in Erwartungshaltung vor der Gegensprechanlage.
In quasi hypnotischem Zustand ahnt er, worauf er seine Ohren auszurichten
hat. Der Inhalt des Films ist als Erfüllung einer Rachephantasie Freds
zu lesen. Als Pete tagträumt er sich in das Szenario eines klassischen
Film Noirs. Fred insinuiert in seiner Eifersucht, Renee habe ein Verhältnis
mit einem anderen Mann. Dessen Ambiente konstruiert er aus Renees Andeutungen
über ihre undurchsichtige Vergangenheit. So stellt sich Fred den Liebhaber
als omnipotenten Unterweltsboss vor. Allein dadurch lässt sich vor seinem
gekränkten Ego die vermutete Untreue legitimieren. Der Ablauf ähnelt
dem Muster, das Freud über "Maurys Traum" in der Traumdeutung
ausführt. Darin erzählt Maury, dass er einen vollständigen Traum über
die Französische Revolution, eingeschlossen seiner eigenen Guillotinierung
gehabt habe. Beim Erwachen habe er gerade noch bemerkt, wie ein herabfallender
Bettaufsatz seinen Nacken traf. Freud schließt daraus, dass der Trauminhalt
schon fertig dagelegen habe und beim Eintritt des Außenreizes während
des Aufwachens abgespult worden ist.
[27]
Der
somnambule Fred, in Rache- und Eifersuchtsphantasien versunken, hört
als Außenreiz ein Signal, das anzeigt, dass auf der anderen Seite der
Gegensprechanlage jemand den Einschaltknopf gedrückt hat. Wie in Trance
reagiert Fred seinerseits entsprechend. Was er nun hört, klingt wie
„Dick Laurent is dead“. Zwischen dem Hören der Worte und
dem Realisieren des Inhalts spult sich der gesamte Film ab und ist demgemäß
eine klassische Wunscherfüllung. Exkurs
Ende
Kinemathographisch
ist die Endlosschleife die Illustration des Filmvorführens selber. Jeder
Film zeigt seinen Inhalt mitsamt Figuren und Handlung nur so lange,
wie er vorgeführt wird. Danach wird er (in nichtdigitalen Zeiten) zurückgespult,
um erneut abgespielt zu werden. Godard hat die Implementierung des Vorgangs
in seinem 1965 gedrehten Film Alphaville bereits exekutiert.
Lemmy Caution, Agent 003 der Außenwelt, erreicht um 24 Uhr 17 Minuten
ozeanischer Zeit die Außenbezirke von Alphaville, um
23 Uhr 15 Minuten verlässt er sie wieder. Sein Handeln hat die Uhr zurückgedreht,
der Film kann nun erneut gestartet werden. Bei Godard wird zwar nicht
exakt die ganze Spielzeit zurückgedreht, aber es handelt sich ja schließlich
um eine virtuelle/ozeanische Zeitstruktur, wie es sich für eine Traumzeit
gehört. Mit Alphaville hat Lost Highway zusätzlich noch
die Binnenreferenzialität gemein und das Orpheus/Euridyke- Motiv. Zwar
wird in Alphaville immerzu von Außenwelt gesprochen,
jedoch leidet die "Befreite Welt", wie schon die Namen von
Städten (z.B. Tokyorama) zeigen, an kinemathographischer
Irrealität.
Im
Übrigen tappen die Figuren in Alphaville ebenso ferngesteuert
somnambul durch die futuristische Stadt wie das Personal des Films Letztes
Jahr in Marienbad(1961) von Alain Resnais und Alain Robbe-Grillet.
Auch dieser Film ist wie eine Endlosschleife konstruiert und in mancher
Hinsicht das Urbild aller autoreferenziell- postmodernen Kinematographien.
Folgerichtig ist den Darstellern aller drei Filme in ihrer scheinbaren
Ausdruckslosigkeit besonders schlechte Schauspielkunst attestiert worden.
Noch ein kleines Detail am Rande: Resnais/Robbe- Grillet platzieren
in ihr Werk als Hommage an Hitchcock dessen ikonographisches Bild als
Schattenriss, überdimensional von der Decke herab hängend. In Lost Highway
kann man das Signet, obwohl es nie zu sehen ist, überall entdecken.
(Eine schöne Aufgabe wäre es, die "Silencio- Sequenz" aus
Mullholland Drive mit der Theater- Szene vom Anfang
des Marienbad- Films zu vergleichen).
Gedreht,
verschoben und wiederholt, bildlich so etwas wie eine Doppelhelix sind
die beiden beinahe identischen Bilder nahe der Spiegelachse von Lost
Highway positioniert. Fred wächst unter Schmerzen im Gefängnishof eine
blutende Beule aus der Stirn. Sie befindet sich auf seiner linken Stirnseite.
Der Betrachter sieht Freds Kopf aus Perspektive eines virtuellen Gegenübers,
sie erscheint ihm deshalb rechts. Pete trägt die gleiche Beule auf seiner
Stirn, allerdings auf der rechten Stirnhälfte. Das Ganze ist über die
Schulter Petes gefilmt, der seinen Kopf in die Kamera dreht. Dem Betrachter
erscheint die Markierung folgerichtig ebenfalls, und diesmal korrekt,
rechts. Dem DVD- losen Kritiker könnten sie identisch erscheinen. Das
Gegenteil ist der Fall. Die blutenden Markierungen sind Zeichen für
zerfallende Identität, nur in reverser Richtung. Fred produziert sie
unter der Drohung der Zerstörung seiner noch vorhandenen Lebensidentität,
bei Pete verschwindet die Markierung mit der kompletten Übernahme seiner
Rolle. Noch zweimal kehren die Kopfschmerzen als untrüglicher Sensor
der Erinnerung an die zurückgelassene Rolle wieder. Einmal, als Pete
während seiner Arbeit in Arnie’s Garage eben jenes
Freejazz- Solo aus dem Radio vorgespielt bekommt, zu dem Fred in Teil
1 des Films ansetzt. Ironischer Weise beklagt sich ein Arbeitskollege
(Eraserhead!), Pete hatte inzwischen einen anderen Sender eingestellt,
bei ihm, dass er den Sender gewechselt habe. Ihm, dem Arbeitskollegen,
habe die Musik doch gefallen. - Sicher, Automechaniker hören bevorzugt
Freejazz statt z.B. den klassischen Countrysong Lost Highway von Hank Williams, den Song vom verspielten Leben. - Falls man jedoch
die Uneindeutigkeit/ Mehrdeutigkeit von Personen und Szenen in Lynchen
Werk berücksichtigt, bleiben zusätzliche Interpretationen möglich. Sowohl
die Figur in der Rolle des Arbeitskollegen könnte ironisch aus ihrer
Rolle heraus einen Witz angebracht haben, wie auch der Autor Lynch,
dem ansonsten die Szene als "zu dick" angekreidet werden
könnte. Oder, da es sich um einen traumanalogen Film handelt, könnte
die Figur als deiktischer Wink, Wiederkehr des Verdrängten, gelesen
werden. Die Lynchtechnik lässt jedes Element mit dem passenden Kommentar
aus der Szene, zur Szene, aus ihrer entlarvenden Eindeutigkeit reißen.-
Mehr dazu im Kapitel "Doppel- Whopper".
Ergiebiger
ist da schon die psycho-technische Bedeutung der Endlosschleife. Lacan
benennt den Zusammenhang treffend, wenn er schreibt, dass:"[…]
all das, was zu einem wesentlichen Fortschritt für das menschliche Wesen
gehört, den Weg einer hartnäckigen Wiederholung durchlaufen muß."
[28]
So
wird uns denn in Lost Highway die immergleiche Story des Lebens (aus
männlicher Perspektive) von der verfehlten sexuellen Begegnung vorgespielt.
Die Rückseite der sexuellen Begegnung als Endlosband zeigt sich dem
adoleszenten Pete als projizierte Filmschleife in Andys Haus. Die von
Freud sogenannte "Urszene" zeigt sich beinahe unzensiert
und ist somit die technologische Implementierung des psychischen Vorgangs
der Wiederholung eines bekannten traumatischen Topos’, nicht des
Traumas als solchem. Freuds "Wolfsmann" kam in seinen Träumen
insistent auf verschobene Beobachtung eines Geschlechtsakts a tergo
der Eltern zurück. Lynch führt nun dessen filmtechnisches Pendant vor.
Zeit
und Raum sind zu einem leuchtenden Strich zusammengeschoben, also, wie
gesagt: reduziert, aufs Äußerste reduziert, wie der Tod das Leben zunichte
macht, die absolute Reduktion selbst ist, und plötzlich öffnet sich
diese zerknüllte Papiertüte bzw. der leuchtende Strich weitet sich,
fächert sich auf, und die eigentliche Handlung, jenseits jeder Logik
und Erklärungsmöglichkeit, beginnt von neuem, beginnt nun erst richtig,
wird aus der Tüte herausgeschleudert, obwohl die Tüte samt Inhalt doch
soeben noch dermaßen klein zusammengeknüllt war. Oder war gar nichts
drin? Es beginnt sozusagen ein zweites Leben nach dem ersten, oder war
das zweite vor dem ersten, oder doch umgekehrt? Im Film ist das möglich.
In der Kunst kann es möglich werden, sonst nirgendwo.
[30]
Der
Freudschüler Theodor Reik hat in seiner Studie über den Schrecken diese
spezielle Aktivität der Psyche als film avant la lettre beschrieben:
Andere
Töne- Andere Orte
Bernd
Holland notiert am 26.02 2007 in der New York Times zu Neuwirths Opernadaption:
Als
Gegenstück dazu können die Sirenengesänge gelten. Sie begleiten zum
Beispiel die traumatisch- sexuelle "You’ll never have me"-
Szene. Hierin kann erneut die Lynch-typische Ver- Wendung von Musikmaterial
beobachtet werden. Der Titel Song To The Siren von Tim Buckley aus den 70ger Jahren wird unter der Stimme
Elisabeth Frasers (Cocteau Twins) zum Gesang
einer Sirene. Mythenbewanderte sind gewarnt! Wer nicht an einen
Pfahl gebunden ist oder die Ohren mit Wachs ausgegossen hat, muss mit
Unheil rechnen. Pete hört Musik vom falschen Radio-Kanal. Wieder einmal.
Denn Alice hatte unbemerkt im Autoradio des Mustangs, mit dem sie und
Pete zur Beuteübergabe in die Wüste zum Treffen mit dem Hehler (Mephisto)gefahren
waren, einen anderen Sender eingestellt. Und so folgt, was folgen muss:
Den Lockgesängen Alices erlegen, prallt Pete mit seinem Begehren brutal
auf die in süßem Zungenschlag vorgetragene Verweigerung, während im
Off der Song die Szene akustisch begleitend kommentiert, bis dissonante
Töne ihn ablösen. Die Szene bildet die negative Entsprechung zur "Magic
Moment" -Sequenz, ebenso, wie das helle Licht in beiden die Antwort auf
die Schwarzfilm- Momente im Film abgibt.
Die
Gesänge sind ebenso de- realisierend wie die Brummtöne. Doch haben die
tiefen Töne schon rein wahrnehmungstechnisch durch ihre Nicht- Ortbarkeit
die Eigenschaft sich quer zur Filmhandlung zu bewegen. Sie suppen aus
den Lautsprechern, bilden das akustische Pendant zu den in erster Linie
illustrierenden Songs von David Bowie, Lou Reed oder Marilyn Manson.
Doppel-
Whopper
Was
wird uns in Lost Highway aufgetischt? Dem geübten Filmanalytiker
fällt neben dem reichhaltig ausgebreiteten Schatz an filmhistorischen
Topoi sofort die inhärente Selbstkommentierung einzelner Sequenzen auf.
Sehr schön in der Szene zu beobachten, in der der Mephisto Fred auf
Andys Party davon überzeugen will, dass er sich im Augenblick in Freds
Haus befindet, obwohl er gerade vor ihm steht. Fred kommentiert: "That’s
fucking crazy, man." Darauf fordert der Mystery Man Fred auf: "
Call me!" Als Fred ihn fragt, wie er dorthin gekommen sei, antwortet
die Stimme aus dem Mobiltelefon: "You invited me".
Der
Betrachter weiß zunächst nicht mehr als Fred selbst. Deshalb ist dessen
Entrüstung vollkommen verständlich und ein Spiegel einer möglichen Frage
des Zuschauers, dem spätestens jetzt die Kontinuität von Zeit und Raum
genommen wird. Die Aufforderung des Mystery Mans: "Call me!"
initiiert den "Anruf", der später als "You invited
me" umgedeutet wird. Der Mephisto wird also nicht mehr rituell-
religiös angerufen, sondern technisch implementiert per Mobiltelefon.
Die körperlose Stimme aus dem "anderen Raum" hat den gleichen
Status wie der doppelte Fred an den beiden Seiten der Gegensprechanlage.
Stimmen vom "anderen Ort" sind Stimmen des Unbewussten.
Sie sind für das Subjekt in jeder Hinsicht "wahr", oder
anders: "Der Signifikant ist vor allem befehlend."
[37]
Fred hat keine Wahl, er muss den
Mephisto mit dessen Mobiltelefon anrufen, er kann seine
Sätze nicht bezweifeln. Und so muss er den Teufelspakt
eingehen und muss für die Richtigkeit des Satzes vom
Tod Dick Laurents sorgen.
Alice
steigt in variablen Geschwindigkeiten, vor allem in Zeitlupe, aus Mr.
Eddys Cabrio. Ausgestiegen bewegt sie sich auf den Mercedes von Mr.
Eddy zu. Sie blickt kurz über die Schulter von Mr. Eddy zu Pete, der
sie wie paralysiert anstarrt. Darauf folgt ein zweiter Blick von Alice
zu Pete, begleitet von einer Kopfdrehung, die ihre blonden Haare im
hellen Gegenlicht aufleuchten lassen. Anschließend blickt sie länger
mit nochmaliger reverser Kopfbewegung zu Pete, während sie rückwärts
auf den Beifahrersitz schwebt. Pete ist immer noch wie erstarrt. Schließlich
signalisiert Alice mit einem wie zufällig erscheinenden Lidschlag Pete
ihre Sympathie, unterstrichen durch eine leichte Kopfbewegung, die als
Einladung interpretiert werden kann. Noch zweimal folgt identisches
Lidsenken. Darauf fixiert Alice Pete mit einem anhaltenden Blick. Pete
kann dem Blick nicht standhalten, fühlt sich möglicherweise in seinem
Starren ertappt, antwortet seinerseits mit einem leichten Abwenden des
Kopfes, gefolgt von einem Lidschlag, der als Antwort gedeutet werden
kann. All das zeigt die Kamera, aber es bleibt ungewiss, ob beide Figuren
das Geschehen nach dem ersten erotisch aufgeladenen Lidsenken von Alice
noch wahrnehmen, da inzwischen die Autotür mit der getönten Scheibe
geschlossen wurde und so möglicherweise eine direkte Kommunikation unterbindet.
Sicher jedoch ist, dass Pete sich nach seiner "Antwort"
im Reich der Imagination befindet. Lynch wählt dafür die romantisch
kodierte Landschaftsaufnahme in einer Morgen-Abendröte- Stimmung, die
er weich neben und durch Petes Kopf hindurch einblendet. Akustisch gedoppelt
wird dieser Augenblick durch Lou Reeds Song This Magic Moment.
Das
Ganze erinnert an ein Musikvideo. Hier wie dort geht es um eine Verdopplung.
Nur umgekehrt. Das Musikvideo illustriert die akustische Botschaft,
der Filmausschnitt wird akustisch dupliziert. Sowohl der Song wie die
Filmszene könnten ohne ihre medialen Verdopplungen eigenständig und
verlustfrei existieren: Sie sind überflüssig. Zudem hat allein schon
die starke Dehnung des Augenblicks durch die Zeitlupe den Charakter
einer unnötigen Verdopplung. Sie zeigt die technische Implementierung
eines kurzen, für das Subjekt wichtigen Augenblicks,
der im Bewusstsein eine ausgedehnte Zeitdauer annimmt und so deren Bedeutung
unterstreicht. Lynch macht das meiner Ansicht nach auch aus dem Grund,
weil er auf diese Weise alte Topoi durch "Überdeterminierung"
noch einmal ver- wenden kann, die sonst nur als Klischees wiedererkannt
würden. Gelegentlich kommt bei mir sogar der Eindruck auf, Lynch habe
seinen Film entlang einer Linie exakt für diesen Zweck neu gedrehter
Musikvideos komponiert.
Automedialität
Der
bevorzugte Zeitraum erstreckt sich von den 40ger bis 70ger Jahre des
20ten Jahrhunderts. Veraltete Technik aus der Mediengeschichte wie etwa
der Filmprojektor in Andys Haus illustrieren Lynchs Liebe zum Detail.
Wahrscheinlich wurde sogar Andys Bart vom Bild eines Schauspielers abgenommen. Wir
schreiben das Jahr 1997, die Entwicklung der technischen Medien ist
weiter vorangeschritten. Überwachungskameras können Bewegungen in Echtzeit
aufzeichnen. Wie Renee den zwei Polizisten erzählt, hält Fred angeblich
nichts von der modernen Technik. Gleichwohl besitzt er ein modernes
Fernsehgerät und einen Videorecorder. Und er macht Gebrauch davon. Er
schiebt ein letztes Video in das Abspielgerät und sieht sich selbst
neben der Leiche Renees. Zuvor aber waren er und Renee von Andys Party
zurückgekehrt. Szenenbeschreibung: Renee blickt im Badezimmer beim Abschminken
auf ihr Spiegelbild. Fred wird zur gleichen Zeit wie magisch von einem
dunklen Gang in seinem Haus angezogen, verschwindet darin. Renee erspürt
das Unheimliche der Situation, dreht sich um. Fred erblickt im dunklen
Gang seinerseits sein Spiegelbild. Renee sucht ihn mit den Worten: "Fred?, Fred, where are you?", wie sie es schon in Freds Traum?
getan hatte. Sie bleibt vor dem dunklen Gang, den sie nicht erkennt,
stehen. Fred kommt aus dem dunklen Gang hervor, blickt in die Kamera,
geht an ihr vorbei, es folgen einige Sekunden Schwarzfilm. Die Kamera
zieht auf und gibt den Blick frei auf etwas, was wie eine Tür aussieht.
Nachdem Fred die Kassette eingelegt hat, kann der Zuschauer erkennen,
dass die mutmaßliche Tür die Detailaufnahme des Fernsehgeräts zeigte.
Ein
großer Teil der Szenerie stammt aus Cocteaus Orphee
(1949). Darin betritt Orpheus die Unterwelt durch einen flüssigen Spiegel.
Mal abgesehen von den Parallelen zu Petes Geschichte, der ja schließlich
auch eine Frau aus den Klauen des Unterweltbosses reißen möchte, ist
die Oberfläche der Kamera, der Spiegel, der Schirm, die Haut, die die
Wirklichkeitswelt vom Unbewussten trennt, auch die Schwelle,
die beide Sphären miteinander verbindet. Deren Inhalt wird von der Videotechnik
ebenso unterschiedslos aufgezeichnet, wie es das Unbewusste mit der
menschlichen Wahrnehmung und seiner psychischen Bewegung tut. Zitat
Kittler: "Das Unbewusste als ´Diskurs des Anderen´ hat technologischen
Status…Nur Maschinen sind eben imstande, das Reelle an und jenseits
der Sprache zu speichern."
[38]
Deshalb kann die Kamera Freds Mordtat aufzeichnen,
die von seinem Bewusstsein als nie geschehen abgespalten wurde. Oder
mal wieder auf die Traumebene zurückgeblendet, die er als Beseitigung
seines Problems sich wünscht. Lynchs Film wird hier automedial.
Mephisto
und Kamera sind aneinandergekoppelt. Sie zeichnen, im Film sichtbar
gemacht, alles Reale, also alles auf. Der Mephisto selbst
braucht keine Videokamera, um aufzuzeichnen, wie Fred’ im Lost
Highway Hotel Mr. Eddy überwältigt und dann in den Kofferraum sperrt.
Seine Augen allein genügen. Lost Highway ist ein anderer
Name für den "Anderen Ort", der als "Ort des Anderen",
also dem Unbewussten nach Lacan, die Heimat Mephistos
ist.
Wir,
die Kinozuschauer, sehen den Film Lost Highway gewissermaßen
durch die Augen Mephistos. Der
Mystery Man reicht im Showdown den modernen Taschenfernseher an Mr.
Eddy weiter. Dick Laurent sieht dort seine Wahrheit, sein Leben aufgezeichnet.
Und nebenbei entlarvt er auch Renees Lüge, sie wisse nicht mehr, um
welchen Job es beim Kennenlernen von Andy gegangen sei. Sie ist in dem
Snuff- Video(Blue- Movie)in blauem Fernsehlicht, seltsamerweise
vom Film-Projektor an die Wand geworfen, und in Farbe
auf der Wirklichkeitsebene, als Betrachterin im Saal, zu sehen. Damit
übernimmt die videotechnische Aufzeichnung die Funktion, die Ronald
Reagen in Tod eines Killers noch selbst vornehmen musste.
Angesichts seines Todes gesteht er Lee Marvin, dass er gelogen habe
und bestreitet die Wahrheit nicht mehr.
Der
Taschenfernseher fungiert auch als Videokamera und zeigt den Mystery
Man neben Fred’ in blauem Licht. - Beide gehören, der Wahrheitsfunktion
des Mediums gemäß und dem Teufelspakt geschuldet, zusammen. Der
Mystery Man erschießt Dick Laurent. Er hält mit der Waffe an derselben
Stelle auf den Gangsterboss an, an der er zuvor mit "vorgehaltener
Videokamera" Fred’ nach seinem Namen gefragt hatte. Fred’
war unter der "Todesdrohung" in den Mustang gestiegen und
zum Lost Highway Hotel gerast/geritten, um Mr. Eddy
zum Ort des Showdowns zu bringen. Erneut hat er, wie schon zuvor, den
Auftrag Mephistos, also seinen eigenen Wunsch, instinktiv erkannt.
Kamera
und Pistole sind hier identisch. Das hat eine lange kinematographische
Tradition. Statt sie auszubreiten, hier nur ein Zitat von Friedrich
Kittler: Die
Geschichte der Filmkamera fällt also zusammen mit der Geschichte automatischer
Waffen. Der Transport von Bildern wiederholt nur den von Patronen. Um
im Raum bewegte Gegenstände, etwa Leute, visieren und fixieren
zu können, gibt es zwei Verfahren: Schießen und Filmen.
[40]
Das schwarze Zentrum
Just
a deck of cards and a jug of wine Das
Zentrum von Lost Highway (des Films) wird von einem
schwarzen Loch gebildet, das alles, was in seine Nähe gerät, ansaugt,
vernichtet, um es verändert wieder auszuspucken, erneut anzusaugen und
so weiter. Wie oben mit Hugo Münsterberg gesprochen: "The photoplay
tells us the human story" aus der Perspektive ihrer Nachtseite.
Jean- Luc Godard lässt in Alphaville, dem Ort des Unbewussten,
folgende Wahrheit aussprechen:
Grenzen
des Verfahrens
Lynch
hat das Verdienst, mit Lost Highway eine besondere Pyramide
gebaut zu haben, an deren Wände wir sehen, wie die Bildergeschichte
unseres Lebens vorüberzieht.
Ende
©
Michael Thamm 2009
[1]
Slavoj Zizek, The Art of the Ridiculous Sublime. On David Lynch’s
Lost Highway. Seattle 2000.
[2]
Robert Blanchet. Circulus Vitiosus. Spurensuche auf David Lynchs Lost
Highway mit Slavoj Zizek. Online Originalbeitrag, Cinetext,
Mai 1997. [3]Elfriede Jelinek, Lost Highway. In: Profil, 44/2003.
[4] Ebd.
[5]
Sigmund Freud, Die Traumdeutung. Studienausgabe, Bd. II. Hrsg. Alexander
Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey. Ffm 1996, Anm., S.298f.
[6]
Vgl. Ekkehard Knörer, Originalkritik zu Lynchs Inland
Empire. In: www.perlentaucher.de/artikel/3846.html
[7]
Zitiert wird hier immer aus der SZ- Cinemathek Edition. 5.LostHighway.
2005. [8]Blanchet, Circulus Vitiosus…
[9]
Vgl. Zizek, The Art of…, S.11:” The enigma
of this new femme fatale is that although, in contrast
to the classic femme fatal, she is totally transparent
(openly assuming the role of a calculating bitch, the perfect embodiment
of what Baudrillard called “trasparency of Evil”), her
enigma persists.”
[10]
Vgl.Jacques Lacan, Das Seminar über E.A. Poes “Der entwendete
Brief”. In: ders. Schriften I. Ausgewählt und herausgegeben
von Norbert Haas. Olten und Freiburg 1973, S. 7-41.
[11]
Friedrich Kittler, Grammophon,Film, Typewriter. Berlin 1986, S. 240.
[12]
Hugo Münsterberg, The Film. A Psychological
Study. The Silent Photoplay in 1916.Reprint. New York 1970, S. 15.
[13]
Vgl. Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur. München
1972, 143, zitiert bei Friedrich Kittler, Draculas Vermächtnis. Technische
Schriften. Leipzig 1993, S. 96.
[14]
Friedrich Kittler, Romantik-Psychoanalyse-Film: eine Doppelgängergeschichte.In: ders. Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig 1993,
S.96ff.
[15]
Vgl. Herbert Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding
Media. Düsseldorf- Wien, S. 15. [16]Jelinek, Lost Highway … .
[17]Freud, Die Traumdeutung…, S.286.
[18]Ebd., S. 294.
[19]Münsterberg, The Film…, S. 94.
[20]Blanchet, Circulus Vitiosus…
[21]
Zizek, The Art…, Kapitel 6:Fathers, Fathers
Everywhere, S.32.
[22]
Das Seminar von Jacques Lacan. Das Ich in der Theorie Freuds und in
der Technik der Psychoanalyse. Hrsg. von Norbert Haas. VII. Der Kreislauf.
Olten 1980, S. 115
[23]
Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar
von Jacques Lacan. Buch XI. Hrsg. von Norbert Haas. Olten und Freiburg
1980, S.81. [24] Ebd., S.109.
[25]
Ebd., S.94f.
[26]
Georg Seeßlen, Lost Highway- Ein endlos geflochtenes Band. In:
Filmbulletin 2, 97. 39. Jahrgang. Heftnr. 211. April 1997.
[27]Vgl. Freud, Die Traumdeutung…, S.52f.
[28]Lacan, Das Ich in der Theorie…, S.116.
[29]Lacan, Die vier Grundbegriffe…, S.66.
[30]Jelinek, Lost Highway.
[31]
Theodor Reik, Der Schrecken. In: ders. Der unbekannte Mörder. Psychoanalytische
Studien. Ffm, S.276.
[32]Münsterberg, The Film…, S.95.
[33]
Michael Thamm, Psycho-Technik. Untersuchungen zu den frühen Filmen
von Jean-Luc Godard. Unveröffentlichtes Manuskript/Magisterarbeit
1990. Teiresias Verlag. Köln oder: http://www.textundweb.de/godard/titel.htm
[34]
Slavoj Zizek, David Lynch oder deutscher Idealismus im Kino. In: Riss.
Zeitschrift für Psychoanalyse. 12.Jahrgang Nr. 39/40, Zürich 1997,
S.199.
[35]
Friedrich Kittler, Draculas Vermächtnis. In: ders. Draculas Vermächtnis.
Technische Schriften. Leipzig 1993, S. 49.
[36]
Jacques Lacan, zitiert bei Kittler, ebd. S.51. Ursprünglich: Jacques
Lacan, Television. Paris 1973, S.47.
[37]
Jacques Lacan, zitiert bei Friedrich Kittler, Draculas
Vermächtnis…, S.27. Ursprünglich:
Lacan, Le seminaire, livre XX: Encore. Paris 1975, S.33.
[38]Friedrich Kittler, Draculas Vermächtnis…, S.50.
[39]
Edgar Morin, Der Mensch und das Kino. Eine anthropologische Studie,
übers. von Kurt Leonhard. Stuttgart 1958, S.130.
[40]Friedrich Kittler, Grammophon, Film…, S.190.
[41]
Alphaville. Screeplay,
übers. von Peter Whitehead, London 1969, S.38.Hier wieder von mir
aus dem Englischen. MT.
[42]
Jacques Lacan, Das Ich in der Theorie Freuds…,
S.119.
[43]
Andreas Kilb, Eine Art Jenseits. DIE ZEIT 16/1997. [44] Iris Radisch, Die Heilige der Schlachthöfe. Ein Schock: Die große Regionalschriftstellerin Elfriede Jelinek bekommt den Nobelpreis für Literatur. DIE ZEIT 43/2004, S.44.
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