Weiter dran
und näher weg
Nicht ich spannte im Angesicht des Ernstfalles den Schirm auf, sondern
der Schirmherr. Und der war niemand anderer als Schirrmacher, seinerzeit
Dezernent für Innendekoration. Man hatte nämlich versucht,
die alltäglichen Dinge von Mutaten erledigen zu lassen, die unwichtigen
jedoch durch ausgewählte Idioten mit intensivem Hang zur Repräsentation,
wobei Schirrmacher nicht der erste gewesen war, aber doch der wichtigste.
Als dann das gesamte Projekt durch gewisse Ungeschicklichkeiten in Misskredit
geriet, konnten obengenannte Personen nicht mehr aus ihren Ämtern
verdrängt werden und Schirrmacher blieb das, wozu man ihn gemacht
hatte.
Aber ich schweife ab.
Es passierte in Dorndorf, ja, das Ganze spielte sich in Dorndorf ab.
Nicht im Dorndorf des Schweizer Oberlandes, sondern in irgendeinem Dorndorf.
Möglicherweise war es auch gar nicht Dorndorf, sondern ein anderes
Dorf, wahrscheinlich war es auch nicht einmal ein Dorf und allein meine
Erinnerung lässt mich ein Dorf vorstellen.- Man denke an den Fall-
Out. Klar ist nur, dass Schirrmacher dort gewesen sein muss und natürlich
ich, denn wie könnte ich sonst über jenen Vorfall berichten.
Aber ich schweife ab.
Es begann zu regnen. Keinesfalls griffen die Anwesenden sofort in ihre
Handtaschen oder hasteten schnurstracks zu ihren Autos, nein, das kann
ich nicht bestätigen. Allgemein war man der Ansicht, dass es mit
dem Regen schon so seine Bewandtnis haben dürfte, so ganz ohne
Grund jedenfalls würde es nicht regnen. Einige Außenseiter
mutmaßten, man müsse nur lange genug warten, dann habe es
ein Ende mit dem Regen. Wieder andere glaubten, Regen sei von Natur
aus gut und könne überhaupt nicht schaden.-
Der Regen fiel unausgesetzt auf die ausharrenden Anwesenden.- Schon der
Anblick ihrer Gesichter zeigte jene Entschlossenheit, die man sonst
nur aus japanischen Katastrophenfilmen kannte.- Hier wurde nicht gewichen,
hier biss man sich fest.
Nichts liegt mir ferner, als den Anwesenden etwa Starrsinn zu unterstellen.
Gott bewahre! Es war halt nur einer von diesen Tagen, an denen man vor
lauter Gleichgültigkeit ebensogut das Gegenteil hätte tun
können. In der Folgezeit wurde es dann, wenn dieser musikalische
Vergleich erlaubt ist, in chromatischen Schritten zunehmend diluvialer.
Die Situation ausnutzend hatte Schirrmacher, von allen unbemerkt und
vollkommen selbstverständlich, den Schirm aufgespannt.
Ich erwähne die ganze Szenerie nur deshalb, weil ich exakt bleiben
möchte. Darüberhinaus war es genau der Moment, in dem ich
Seifenberg zum ersten Mal sah. Seifenberg. Jenen Seifenberg, der mit
"weiter dran und näher weg" eine frühe Etüde
seines Filmschaffens hingelegt hatte, mit dem er auch später weithin
unbekannt blieb, wenn man diese Etüde mal ausnahm.
Folkwang Musikschule
1999